Depression und Traurigkeit

Juni 20, 2016

Depression gehört mit einer Lebenszeitprävalenz (im Lauf des Lebens) von rund 20% zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen überhaupt.
Patienten kommen primär nicht wegen «Depression» in die Arztpraxis. Vielmehr melden sich depressive Patienten zu einem grossen Teil aufgrund unspezifischer somatischer Symptome wie Rücken-, Nacken-, Gelenk- und Kopfschmerzen, Bauchbeschwerden, Müdigkeit, Schwindel, Schlafstörungen.
Die Kriterien der Depression nach ICD-10 (Internationale Klassifikation der Krankheiten) sind wie folgt (Diagnosekriterien der unipolaren Depression):

Hauptkriterien bzw. Hauptsymptome

  • Gedrückte, depressive Stimmung
  • Interessenverlust, Freudlosigkeit
  • Antriebsmangel, erhöhte Ermüdbarkeit

Nebenkriterien bzw. Zusatzsymptome

  • Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
  • Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
  • Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit
  • Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven
  • Suizidgedanken und/oder -Handlungen
  • Schlafstörungen
  • Verminderter Appetit

Zeitkriterium

  • Symptome mindestens über zwei Wochen vorhanden

 Schweregrad

Leichte Depression: 2 Hauptsymptome plus 2 Zusatzsymptome

Mittelschwere Depression: 2 Hauptsymptome plus 3-4 Zusatzsymptome

Schwere Depression: 3 Hauptsymptome plus über 4 Zusatzsymptome

 

Neuere Forschungen konnten zeigen, dass sich Nervenzellen im Gehirn während depressiver Episoden langsamer neu vernetzen und sich damit das Gehirn schlechter an neue Reize anpassen kann. Die sogenannte synaptische Plastizität ist herabgesetzt. Die verminderte neuronale Anpassungsfähigkeit könnte viele Symptome einer Depression erklären.
Die Forscher gehen davon aus, dass es sich bei der verminderten synaptischen Plastizität um eine Ursache der Depression handelt und nicht nur um eine Folge.
Neben einer etablierten Depressionstherapie hat sportliche Betätigung eine positive Wirkung auf die synaptische Plastizität gezeigt.
Depression ist ein deutlicher Prädiktor (Vorzeichen) für mikro- und makrovaskuläre (Gefäss-) Erkrankungen, einschliesslich zerebraler Infarkte. Bereits bei leichtgradiger Depressivität eines Patienten mit Diabetes vervielfacht sich das Risiko für eine kardiovaskuläre Erkrankung.

Also gilt hier auch das Motto: gute Ernährung, mentale Entlastung und genügend Bewegung.

«Wer mit Winter-Depressionen endet, sollte mit Frühlings-Gefühlen anfangen.» (Helmut Glassl)

 

Die postpartale Depression wird häufig nach wie vor tabuisiert. Wenn sich eine Frau nach der Geburt über ihr Kind nicht freuen und keine Beziehung zu ihm aufbauen kann, ist an eine postpartale Depression zu denken.  Zwangsgedanken, Impulse, dem Kind etws antun zu können, sowie Suizidgedanken müssen bei der betroffene Frau nachgefragt und ernst genommen werden.

 

Wann wird Traurigkeit zur Krankheit?

Eine Trauerreaktion auf den schmerzlichen Verlust eines geliebten Menschen ist verständlich und normal. Die Zeichen und Symptome der Trauer können aber auch länger als gewöhnlich andauern, dann spricht man von einem komplizierten Trauerverlauf. Dieser hat langfristige soziale, psychische und physiche negative Auswirkungen, ähnlich wie bei der Depression. Durch Erkennen dieser ungünstigen Konstellation kann die betroffene Person frühzeitig therapiert werden. Dazu gehören:

  • die Lage (er-)klären: Diskussion über die Natur des Verlustes, über Trauer und deren Adaptationsprozesse
  • Selbstregulation durch Selbstbeobachtung und Reflexion unterstützen
  • Strategien finden und aufbauen, um sinnhafte Kontakte zu anderen Personen zu schliessen, um Schmerz zu teilen und Hilfe zuzulassen
  • Ziele setzen wie neue Aktivitäten zu finden, Enthusiasmus, Hoffnung und Freude zu erleben
  • Die Welt wieder erleben und vermiedene Situationen zu konfrontieren

 

„Jede Impression ohne Expression bedeutet Depression.“ (Sprichwort, unbekannt)

 

Für diejenigen, welche gerne weiter lesen möchten und Zeit finden:

Goethe: FAUST, Zweiter Teil, Fünfter Akt

Der alte Universalgelehrte Faust ist allein in seinem Palast. Da wollen Geister zu ihm hinein, in der Gestalt alter Frauen: Mangel, Schuld, Not – aber Faust ist hier nicht verwundbar, das sind keine Probleme für ihn. Also jagt er sie fort, aber etwas stimmt noch nicht:

Faust:
…Die Pforte knarrt, und niemand kommt herein.
Ist jemand da?

Sorge:
Die Frage fordert Ja!

Faust:
Und du, wer bist denn du?

Sorge:
Bin einmal da.

Faust:
Entferne dich!

Sorge:
Ich bin am rechten Ort.

Faust:
Nimm dich in Acht und sprich kein Zauberwort!

Sorge:
Würde mich kein Ohr vernehmen,
Müsst es doch im Herzen dröhnen;
In verwandelter Gestalt
Üb’ ich grimmige Gewalt.
Auf den Pfaden, auf der Welle,
Ewig ängstlicher Geselle,
Stets gefunden, nie gesucht,
So geschmeichelt wie verflucht. –
Hast du die Sorge nie gekannt?

Faust will von ihr nichts wissen, berichtet von seiner Lebensgeschichte. Die «Sorge»  beschreibt sich selber:

Sorge:
Wen ich einmal mir besitze,
Dem ist alle Welt nichts nütze;
Ewiges Düstre steigt herunter,
Sonne geht nicht auf noch unter,
Bei vollkommnen äussern Sinnen
Wohnen Finsternisse drinnen,
Und er weiss von allen Schätzen
Sich nicht in Besitz zu setzen.
Glück und Unglück wird zur Grille,
Er verhungert in der Fülle;
Sei es Wonne, sei es Plage,
Schiebt er’s zu dem andern Tage,
Ist der Zukunft nur gewärtig,
Und so wird er niemals fertig.

Faust:
Hör auf! So kommst du mir nicht bei!
Ich mag nicht solchen Unsinn hören.

Sorge:
Soll er gehen? Soll er kommen?
Der Entschluss ist ihm genommen;
Auf gebahnten Weges Mitte
Wankt er tastend halbe Schritte,
Er verliert sich immer tiefer,
Siehet alle Dinge schiefer,
Sich und andre lästig drückend,
Atem holend und erstickend;
Nicht erstickt und ohne Leben,
Nicht verzweifelnd, nicht ergeben.
So ein unaufhaltsam Rollen,
Schmerzlich Lassen, widrig Sollen,
Bald Befreien, bald Erdrücken,
Halber Schlaf und schlecht Erquicken
Heftet ihn an seine Stelle
Und bereitet ihn zur Hölle.

Faust:
Unselige Gespenster! So behandelt ihr
Das menschliche Geschlecht zu tausend Malen.
Gleichgültige Tage selbst verwandelt ihr
In garstigen Wirrwarr netzumstrickter Qualen.
Dämonen, weiss ich, wird man schwerlich los,
Das geistig-strenge Band ist nicht zu trennen;
Doch deine Macht, o Sorge, schleichend gross,
Ich werde sie nicht anerkennen!