Die Wiege und die Kindheit

Dezember 24, 2015

Wenn ich an meine Kindheit denke, kommt mir häufig die anatolische Wiege in den Sinn, mit der ich aufgewachsen bin – das hölzerne, schaukelnde Bett für Babys und Kleinkinder. Diese Rollwiege kann von aussen gut geschaukelt werden, da der untere Teil eine bogenförmige Holzstruktur hat. Die Wiege kann auch gut über die hochgezogene Holzstange in der Mitte mit einem Zusatzstoff oder Tuch abgedeckt werden.

Diese Art von Wiege kann man leicht mit einem Seil an einem Ast eines Baumes anhängen. So ist die Wiege vom Boden abgehoben, und man kann sie von weitem gut sehen. Das Baby ist geschützt vor den kleinen Tieren am Boden und kann noch leichter geschaukelt werden. Das Baby ist gut gewickelt, d.h. fest mit einem Stoff beinahe eingeschnürt. Es liegt auf dem Rücken, die Arme sowie die Beine sind körpernah umwickelt. Das Kleine kann sich nicht mit den Händen oder Füssen wehren, auch wenn eine Fliege oder eine Mücke sich aufs Gesicht setzt.
Für mich entspricht dieses Bild und die Erinnerung daran einer Ohnmachtssituation. Man ist wehrlos ausgeliefert. Anderseits hat das Kind unter diesen Umständen in der Wiege einen guten Schutz vor Verletzungen und Parasiten. Es kann mit den Händen keinen Schmutz in den Mund bringen. Zudem ist das Baby vor manchen anderen Gefahren gut geschützt: vor Verbrennungen, Stürzen, Tierbissen usw.

Die Eltern oder die Erwachsenen sind meistens mit der Landwirtschaft und den Tieren beschäftigt und haben deshalb nicht so viel Zeit für die kleinen Kinder. Die Mutter hat nur kurz Zeit, um es zu stillen. In den Sommermonaten, wenn es auf dem Bauernhof sehr heiss ist, wird das Kind in der Wiege an einem Nussbaumstamm gut versorgt, und in den Wintermonaten ist es vor der Kälte der nicht gut isolierten Häuser in seiner Wiege gut mit Decken geschützt.

Die Leute, vor allem die Eltern, meinen bestimmt, dem Baby mit der Wiege und der «Verpackung» etwas Gutes zu tun. Neben der Schutzfunktion glauben sie, dass in der Wiege, in richtiger Position, die Knochen besser wachsen und sich formen können. Es bleibt bei mir trotzdem ein ungutes Gefühl von eingeschränkter Freiheit. Man kann seine Arme und Beine, Hände und Füsse nicht bewegen, wie man will. Man ist sozusagen eingesperrt. Nur das Gesicht bleibt offen. In diesem Alter kann das Baby ja nichts sagen und seine Bedürfnisse mitteilen. Er kann nur noch schreien.

Offensichtlich geht es unter diesen Umständen auch um eine Abwägung der Prioritäten. Freiheit gegenüber Sicherheit? Eine Fragestellung, die mir zeitlos scheint. Nur der Kontext ändert sich.